Der Tannenhäher und die Zirbe
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Der Tannenhäher und die Zirbe

Der Tannenhäher (Nucifraga caryocatactes) ist ein Bewohner des oberen Bergwaldes und gehört zur Familie der Rabenvögel (Corvidae). Die Grundfarbe seines Gefieders ist dunkel schokoladenfarben, Flügel und Schwanz sind schwarz, letzterer mit breiter weißer Entbinde. Unter Aussparung des Oberkopfes und Nackens ist das Körpergefieder mit vielen weißen, tropfenförmigen Flecken übersät. Sein klobiger Schnabel verrät, dass der Tannenhäher ein Samenfresser ist.

Die Symbiose zwischen der Zirbe und dem Tannenhäher
Im Alpenbogen gibt es eine enge Symbiose zwischen dem Tannenhäher und der Zirbe (Pinus cembra). Die Zirbe als baumgrenzbildende Art liefert Nüsse, der Tannenhäher pflanzt Jungzirben. Nicht umsonst heißen wir den Tannenhäher in unserem Dialekt „Zirbmgratsch“. Die Zirbelnüsse stellen die Hauptnahrung des Tannenhähers dar, auch wenn Tannenhäher im Herbst und Winter zunehmend öfter in der Talsohle beobachtet werden. Lernfähig, mit Anzeichen von Kulturfolgern, fliegen sie von der Wald- und Baumgrenze in den Talboden herunter und füllen sich ihren Kehlsack mit Hasel- und Walnüssen. Im Sommer und während der Brut nimmt der Tannenhäher auch Insekten und andere Kleintiere an, um den Eiweißbedarf der Jungen abzudecken.
Der benachbarte Schweizerische Nationalpark hat die enge Symbiose zwischen dem Tannenhäher und dem Arven- oder Zirbenwald betont, indem er den Tannenhäher in sein Logo aufnahm.
Der Tannenhäher ist in unseren Alpen ein ganzjähriger Standvogel und legt daher Futtervorräte für den Winter an. Er gehört zu den sogenannten Streuhorter-Vögeln. Streuhorter haben ein besonders gutes Gedächtnis.
Der Tannenhäher ist der Zirbenwaldgärtner
Der Tannenhäher ist der Zirbenwaldgärtner. Durch seine Sammeltätigkeit trägt er entscheidend zur Verbreitung und Verjüngung des Zirbenwaldes bei. Schweizer Forscher haben erhoben, dass der Tannenhäher in einem Jahr mittlerer Ernte etwa 100.000 Zirbelnüsschen versteckt, in einem Jahr mit schlechter Ernte waren es immerhin 47.000. Die nicht mehr gefundenen Zirbelnüsse und -zapfen sind das Keimbeet für die Zirbe. Vorratsverstecke sind im Boden, zwischen oberflächlich verlaufenden Baumwurzel, in Flechtenpolstern, aber auch in Baumkronen. Der Vogel findet die Verstecke auch bei geschlossener Schneedecke und völlig verändertem Aussehen der Landschaft mit 80%iger Sicherheit wieder. Weil der Tannenhäher die Samen auch in extrem gelegenen Verstecken verbirgt, keimen und wachsen Zirben auch an extremen Standorten, so etwa in schmalen Felsspalten auf blankem Fels oberhalb der geschlossenen Waldgrenze. Außer direkt unter fruchtenden Altbäumen, von denen die Zapfen („Petschln“) zu Boden fallen und bei Nichtverzehr keimen, geht wahrscheinlich der gesamte Jungwuchs an Zirben auf die Sammeltätigkeit des Tannenhähers zurück. Innerhalb des geschlossenen Zirbenwaldes sind aber immerhin auch noch 80% der Jungbäume das Verbreitungswerk des Tannenhähers.
Streuhorter sind zu punktgenauer Navigation fähig
Das hervorragende Orientierungs- und Merkvermögen der Häher haben Nicola Clayton und ihr Forscherteam in Cambridge am Beispiel des Kiefernhähers (Nucifraga columbiana) erhellt.
Der Kiefernhäher ist der nordamerikanische Verwandte des Tannenhähers. Er kommt u.a. in den Rocky Mountains vor. Der Kiefernhäher, auch als „Zeltplatzräuber“ verschrien, sammelt in einem einzigen Sommer mehr als 30.000 Kiefernsamen und kann bis zu 100 Samen zugleich in seinem großen Kehlsack unter der Zunge transportieren. Diese Samen vergräbt er dann in 5.000 verschiedenen Verstecken, die über ein Gebiet von Dutzenden, ja, sogar Hunderten von Quadratkilometern verstreut sind. Und er findet die verstreuten Verstecke später wieder. Kiefernhäher erinnern sich an die Orte ihrer eigenen Lager und fliegen sie direkt an, ohne eine Menge Energie mit einer ungezielten Suche zu verschwenden. Sie verlassen sich fast ausschließlich auf ihr Gedächtnis, wenn sie ihre persönlichen Vorratskammern lokalisieren – und sie behalten sie bis zu neun Monate im Gedächtnis in einer durch die Jahreszeiten veränderten Landschaft.
Edward Tolman (zitiert nach Jenifer Ackerman: Die Genies der Lüfte, Rowolth Taschenbuchverlag 2019) erkannte in den 1940er-Jahren in Labyrinth-Versuchen mit Ratten, dass Säugetiere eine kognitive Landkarte zu ihrer Positionsbestimmung im Kopf haben. Dass auch Vögel eine mentale Karte von ihrer physischen Umgebung herstellen, schloss man aus Versuchen mit Tauben, in denen Tolmans Labyrinth-Tests wiederholt wurden. Manche Vogelarten sind zu punktgenauer, kleinskalierter Navigation fähig. Dazu gehören Zugvogelarten, aber auch die Brieftauben.
Clayton und ihr Team haben festgestellt, dass die Häher nicht nur wissen, wo sie ihren Vorrat versteckt haben und wer ihnen dabei von den Artgenossen zugesehen hat, sondern auch, was sie dort wann versteckt haben. Die Vögel graben ihre verderblichen Vorräte wieder aus, ehe sie verderben, und lassen die haltbaren Nüsse und Samen für später liegen. Auch plündern die Häher einander die Vorratslager, weil sie die Artgenossen beim Verstecken ausspionieren.
Das Gedächtnis ist im Hippocampus verortet
Der Anatom John O´Keefe hat in den 1970er-Jahren in Versuchen zur Hirnaktivität von Ratten herausgefunden, dass der Ort des Gedächtnisses im Gehirn der Hippocampus ist. O´Keefe und die Psychologin Lynn Nadel erkannten, dass bestimmte spezielle Zellen im Hippocampus immer nur feuerten, wenn die Ratten beim Rennen im Labyrinth an einer bestimmten Stelle vorbeikamen. Für seine bahnbrechende Forschung erhielt O´Keefe mit zwei anderen Forschern 2014 den Nobelpreis.
Wo sitzt nun im Gehirn der Hippocampus? Im menschlichen Gehirn ist der Hippocampus ein tief im medialen Teil des Schläfenlappens vergrabenes Gebilde, bei Vögeln hingegen sitzt der Hippocampus oben auf dem Gehirn, wie ein kleiner Kopf oder Pilz. Ein größerer Hippocampus spricht auch für größere räumliche Intelligenz. So besitzen neben den Futterversteckern auch die Brutschmarotzer wie die Kuckucke oder Kuhstärlinge, einen doppelt so großen Hippocampus wie andere Vögel mit ihrer Hirngröße und ihrem Körpergewicht. Auch der Hippocampus der als intelligenten Meisen ist doppelt so groß wie jener der Spatzen.

Text: Wolfgang Platter, 12. März 2020
Amt für den Nationalpark Stilfserjoch
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